Von Heinz Kowalski
Frühlingsbote zu sein wird vielen Vogelarten zugesprochen. Für mich kündigt der Kleiber mit lautem Pfeifen den Frühling an, selbst wenn er den Beginn oft weit vorverlegt. Bald darauf zeigt er sich im Garten, läuft kopfüber die Birke herunter und sucht sich seine Nahrung in der Rinde. Meine Anwesenheit stört ihn dabei gar nicht. Wahrscheinlich kennen wir uns schon länger, denn der Kleiber ist reviertreu. Am Futterhaus ist er König. Wenn er heranfliegt, weichen Meisen, Rotkehlchen und selbst ausgewachsene Amsel respektvoll.
Viele Gründe haben zu der Entscheidung geführt, den Kleiber zum Vogel des Jahres 2006 zu wählen. Die mitteleuropäischen Buchen- und Eichenwälder stehen dabei an erster Stelle. Wo Buchen- und Eichenwälder erhalten bleiben, sind Kleiber und viele andere Vogelarten zu Hause. Wir setzen uns des halb dafür ein, dass diese Wälder in Deutschland und anderswo geschützt sind.
Nach dem Uhu, Vogel des Jahres 2005, ist für 2006 wieder ein kleiner Singvogel Repräsentant unserer reichhaltigen Vogelwelt. Der Kleiber ist ein bekannter Vogel, dessen Bestand ziemlich stabil ist. Fast überall trifft man ihn an. Besonderen Gefährdungen ist er nicht ausgesetzt; deshalb findet man ihn auch nicht auf der "Roten Liste der gefährdeten Arten." Allerdings steht der Kleiber stellvertretend für einen Lebensraum, für den wir in Deutschland und Mitteleuropa besondere Verantwortung tragen: die Rotbuchen- und Eichenwälder. Sie sind unverzichtbar für viele Greifvogel- und Spechtarten, für viele Meisen, für den Waldbaumläufer, den Trauerschnäpper, die Singdrossel und den Kleiber.
Auch wir Menschen mögen solche Wälder. Wir gehen gerne darin spazieren und staunen über mächtige Baumstämme. Wir freuen uns an allem, was ein Wald von der Bodenvegetation bis zu den Vögeln in den Baumkronen zu bieten hat. Nachhaltig bewirtschaftete Wälder liefern wertvolles Holz für hochwertige Möbel. Eicheln und Bucheckern sorgen für den Nachwuchs der Bäume. Sie sind darüber hinaus begehrte Nahrung für Ringeltauben, Eichelhäher, Buch- und Bergfinkenschwärme und viele Insekten, Käfer oder Säugetiere. Das abgefallene Laub sorgt für den Humus, aus dem wieder neues Leben wächst.
Besonders ältere Bäume mit rauer Rinde, abgestorbenen Ästen und morsche Stellen sind ein Eldorado für viele Vogelarten. Hier zimmert der Buntspecht, Vogel des Jahres 1997, seine Nisthöhle. Sie zieht in den folgenden Jahren viele Nachmieter an, zu Beispiel Stare oder Kleiber. Für den Schwarzspecht, Vogel des Jahres 1981, ist das Holz hoher astloser Buchenstämme nicht zu hart. Er zimmert sich dort in luftiger Höhe eine Bruthöhle. Auch hier wird vielleicht der Kleiber in den nächsten Jahren einziehen.
Abgesehen von den laut trommelnden Spechten ist der Kleiber die Stimme der Wälder. Ihn hört man von Ende Dezember bis ins Frühjahr weithin rufen. Man kann ihn leicht beobachten, wenn er kopfunter den Baumstamm herunter läuft. Er zeigt uns, dass der Wald lebt, lange bevor die ersten Blätter sprießen.
Die Familie der Sittidae umfasst in der Gattung Sitta 22 Kleiberarten. Unsere Art, Sitta europaea, ist über ganz Eurasien verbreitet. Die Kleiber zählen zur weiteren Verwandtschaft der Baumläufer und Zaunkönige. Das Klettern auf Bäumen und Felsen haben sie zum charakteristischen Lebensformtyp entwickelt. Dadurch bilden sie in der Vogelsystematik eine eigene kleine Familie unter den Singvogelarten.
Der Name Kleiber beschreibt die "handwerkliche" Fähigkeit des Vogels, den Eingang der Bruthöhle durch "Kleibern" (Kleben) von Lehmkügelchen zu verkleinern. Der wissenschaftliche Name soll nach Heinroth (1926) von dem gewöhnlichen "Sitt"-Ruf abgeleitet sein, den der Vogel beim Umherstreichen als Stimmfühlungslaut hören lässt.
Abb. 1: | Kleiber (Sitta europaea) (Foto: F. Grawe) |
Der Kleiber ist mit 12 bis 15 Zentimeter von der Schnabelspitze bis zum Schwanzende etwa so groß wie eine Kohlmeise. Er hat eine kompakte Gestalt mit einem relativ großen Kopf und einen langen spitzen Schnabel. Das Rückengefieder ist graublau gefärbt, die Unterseite dagegen hell bis rostbeige. Die Männchen lassen sich an den dunkel-rostbeigen Flanken von den Weibchen unterscheiden. Der lange schwarze Augenstreif grenzt den blauen Kopf vom weißlichen Hals ab.
Nur die Männchen singen. Als Reviergesang ist vor allem die laute Pfeifstrophe "wi wi wi ..." zu hören, die der Beobachter leicht imitieren kann. Der Gesang eines Männchens besteht aus einer Reihe von wenigen Pfeiflauten, von denen jeder in der Tonhöhe gleichmäßig sinkt (Abwärtspfeifen). Daneben gibt es noch eine Trillerstrophe. Ein gedämpftes "sit" dient als Verbindungslaut nahrungssuchender Partner. Das Singen ist von der Witterung, aber nicht von der Temperatur abhängig. Die Gesangsfrequenz verstärkt sich (auch bei großer Kälte) von Ende Dezember bis zum Frühjahr hin. Mit Brutbeginn wird der Kleiber sehr still. Nach dem Ausfliegen der Jungvögel sind wieder verschiedene Laute zu hören.
Kleiber leben von Insekten, Spinnen und Samen. Jungvögel werden häufig mit Raupen gefüttert. Auch im Winterhalbjahr ernähren sie sich von versteckten Spinnen und Insekten, nehmen aber hauptsächlich Baumsamen, wie Bucheckern und Haselnüsse zu sich, wenn diese ausreichend zur Verfügung stehen. Durch kräftiges Hämmern mit dem Schnabel werden diese geöffnet, sodass man manchmal glaubt, ein Specht sei in der Nähe.
Kleiber lieben hochgelegene Bruthöhlen. Im Favoritepark Ludwigsburg hatten 30 vom Kleiber genutzte Bruthöhlen eine Durchschnittshöhe von elf Metern über dem Boden. Höhlen mit engerem Fluglochdurchmesser werden größeren Öffnungen gegenüber bevorzugt. Ist das Flugloch zu groß, sodass der Kleiber fürchten muss, größere Vögel oder Säugetiere könnten eindringen, verengt er den Eingang, bis er gerade noch durchpasst. Erdklümpchen werden mit kurzem Druck an die Unterlage geklebt und mit der Schnabelspitze durch klopfen befestigt.
Der Kleiber beginnt meist schon im März - und damit früher als die meisten Meisenarten - mit dem Nestbau. Potenzielle Bruthöhlen werden bereits im Spätherbst inspiziert und im Februar gesäubert. Als Nestunterlage stellte Hans Löhrl in einem Brutraum mit 14 Zentimetern Durchmesser 225 Holzstückchen und 3350 Spiegelrindeblättchen sowie unzählige Splitterchen fest. Zumeist bauen die Weibchen das Nest. Hauptlegezeit der Eier ist in tieferen Lagen Mitteleuropas die zweite beziehungsweise dritte Aprildekade. In der Regel werden sechs bis sieben Eier gelegt. Anfang Juni fliegen die Jungvögel aus. Zweibruten sind Ausnahmen.
Altvögel bleiben in der Regel ganzjährig in ihrem Revier. Jungvögel siedeln sich gewöhnlich innerhalb eines Radius von wenigen Kilometern an. Ziehende Kleiber werden nur selten beobachtet. Das lebenslange Festhalten am einmal gewählten Brutort dürfte beim Kleiber die Regel sein, ebenso die Dauerehe. Wenn Kleiber das erste Lebensjahr überstehen, können sie bis zu neun Jahre alt werden. Das schaffen aber nur die wenigsten, denn etwa 75 Prozent kommen auf unterschiedlichste Weise in den ersten zwölf Monaten um.
Der Kleiber bewohnt in erster Linie höhlenreich Altholzbestände und bevorzugt strukturreiche, lichte Laub- und Laubmischwälder mit Bäumen, deren Rinde rau ist. Oft genügt schon ein kleiner Altholzbestand, der einen ausreichenden Vorrat an geeigneten Samen für die Ernährung im Winter bietet. In Wäldern werden strukturreiche lichte Bestände mit grobborkiger Rinde bevorzugt. Aber auch in Feldgehölze, die nicht zu isoliert stehen, Baumhecken, Alleen, Parkanlagen, große Gärten und Obstgärten können besiedelt werden.
Das Verbreitungsgebiet des Kleibers erstreckt sich von Europa über den Waldgürtel Asiens bis an die Pazifikküste einschließlich der ost-asiatischen Inselgruppen. Man findet ihn in Marokko, Kleinasien, im Iran und im Kaukasusgebiet. In Irland, Schottland, Island und im Norden von Nordnorwegen, Schweden und Finnland ist er nicht verbreitet. Im südwestlichen Verbreitungsgebiet herrscht die Unterart Sitta europaea caesia vor und im fernen Osten Sitta europaea sinensis. In Deutschland fehlt der Kleiber auf den weitgehend baumlosen Nordseeinseln.
Die Schätzungen für Deutschland liegen zwischen 600 000 und 1,4 Millionen Brutpaaren. Größere Bestandsschwankungen entstehen dadurch, dass die Nahrungsgrundlage von Jahr zu Jahr unterschiedlich ist. Wenn die Buchen besonders viele Bucheckern produzieren (Buchenmast), überleben mehr Kleiber den Winter als in Zeiten, in denen das Futter knapp wird. Nach Herwig Zang kann in Niedersachsen der Bestand bis zu 50 Prozent schwanken. In Optimalbiotopen mit Naturhöhlen liegt die Bestandsdichte zwischen ein bis zwei Paaren je zehn Hektar
Literatur:
NABU-Bundesverband Bonn (2005): Der Kleiber. "Vogel des Jahres 2006" – Broschüre
Anschrift des Verfassers: Heinz Kowalski NABU Landesverband NRW Merowinger Str. 88 40225 Düsseldorf