Was ist und was bedeutet "Natur"?Kurt GUSS Dieses Essay widme ich von Herzen dem Adressaten dieser Festschrift, meinem Namensvetter KURT PREYWISCH, den ich persönlich zwar nur kurz kennengelernt habe, dessen frisches Wesen, dessen aufrechtes Denken und dessen schriftstellerisches Werk mir jedoch recht gegenwärtig sind. Ich wüßte nicht, wann man von Seiten der Wissenschaft dem Gegenstand, von Seiten der veröffentlichten Meinung dem Problem und von Seiten persönlicher Betroffenheit dem Phänomen "Natur" soviel chaotische Gewalt angetan hätte wie heute. Notwendigkeit und Berechtigung solch engagierter Bemühungen und Initiativen sollen hier keinen Zweifel leiden. Sie mögen im Gegenteil Schützenhilfe erfahren durch den zaghaften Versuch, einige begriffliche Klarheit in diesen Themenkomplex zu bringen. Der vom lateinischen natura (nasci = gezeugt) entlehnte Begriff Natur meint in seiner denotativen Bedeutung entweder den gesamten Kosmos, soweit er vom menschlichen Zugriff (Kultur, Zivilisation, Technik) unberührt - sagen wir: verschont - geblieben ist oder im (engeren) ontologischen Sinn das reale Sein (SPINOZA, GOETHE). Mehr Anlaß zur Verwirrung liefern indessen die konnotativen Bedeutungsvarianten des Begriffes Natur, von denen mindestens vier auszumachen sind. Die (1.) wohl unmittelbarste Verknüpfung zum Begriff "Natur" erkennen wir als romantizistische Konnotation. Romantizistisch, weil sie nur in den exaltierten Wunschvorstellungen der Unkundigen besteht. Wer sich mit Geranium sanguineum die Natur ins Zimmer holt, wer in Gottes freier Natur spaziert, um Rehe in freier Wildbahn zu erleben (und dabei beide nach Kräften ihrer Freiheit beraubt), wer den sonnendurchfluteten Hochwald schaut und den Schnee leise rieseln hört, bewegt sich in diesem romantizistischen Bedeutungsfeld. Auf etwas standfesteren Beinen steht (2.) die ethische Konnotation des Begriffes Natur, die sich auf die Werte des Guten, Wahren und Schönen bezieht. Ein Mädchen von "natürlicher" Anmut bewegt sich nicht gestelzt oder geziert, spricht nicht gekünstelt oder prätentiös, ist sensu KLAGES nicht "Darstellung", sondern "Ausdruck". "Natürlich" bedeutet in diesem ästhetischen Sinn soviel wie echt, unmittelbar, unverstellt, unverfälscht (vgl. die Schule der "Naturalisten"!). Gibt jemand , der von "natürlicher" Hilfsbereitschaft ist, Zeit und Geld her, so schielt er damit nicht nach Anerkennung, Dank oder der ewigen Seligkeit, er tut dies aus unmittelbarer Liebe zu seinem Nächsten. Wenn es schließlich unmöglich ist, etwas nicht zu glauben (LORENZ), so sagen wir "natürlich" und meinen damit unmittelbar einleuchtend oder "evident". Von diesem ethisch orientierten Naturbegriff hebt sich (3.) die sektizistische Konnotation des Naturbegriffes durch ihre unerschütterliche Naivität ab. Dies beginnt bei so einfältigem Unfug wie Naturkost, Naturbrunnen, Naturheilverfahren, weltanschaulichem Vegetarismus und ideologischem Nacktbaden und gipfelt in dem Skandal, daß Bundesforschungsminister RIESENHUBER auf dem Altar des Aberglaubens blanke 400 000 DM opfert, welche der Erforschung okkulter (angeblich pathogener) "Erdstrahlen" und "Wasseradern" dienen sollen, deren Existenz durch nichts und wieder nichts bewiesen, ja, nicht einmal wahrscheinlich ist (Der Spiegel 1987(10)). Der sektizistische Naturbegriff hat durch ROUSSEAU's Ruf "Zurück zur Natur!" übrigens eine nur scheinbare Nobilitierung erfahren, da dieser ihn - manch wohlwollenden Interpretationsbemühungen entgegen - durchaus wörtlich gemeint und damit dem Begriff der Erziehung seinen Sinn genommen hat ("Emile"!). 4. endlich ist von Natur in ihrer ökologistischen Bedeutungsvariante zu sprechen, die sich von der sektizistischen dem Grunde nach nicht unterscheidet, wegen ihrer gegenwärtigen Kursnotierung und ihrer kämpferischen Attitüde jedoch gesonderte Erwähnung erheischt. In durch und durch richtiger Einschätzung der Gefahren, die uns, die unserer Welt, die dem Kosmos durch Kultur und Zivilisation, durch Technologie und Technik drohen, gehen Alternative und Ökologisten (die man von den honorigen Vertretern der wissenschaftlichen Disziplin Ökologie nicht sauber genug trennen kann) nicht nur einen Schritt zu weit - sie machen einen gewaltigen Satz daneben, indem sie die Chancen neuer Erkenntnisse mit deren Mißbrauch in einen Topf werfen, indem sie den Preis für die Evolution als deren Ablösesumme bejammern, indem sie im trüben fischen, statt im Trüben zu fischen. Ihr Wirken ist der kulturellen Bremskraft der Kirche ähnlich. Wo diese die Heilsbotschaft zu verordnetem Heil pervertiert, legen jene ihre Hände in Wunden, um deren Heilung zu verzögern. Man hat nicht übel Lust, die Umbenennung der guten, alten Saugglocke in "Ökopumpe" mit den kirchlichen Empfehlungen zur Geburtenregelung und zur Aids-Bekämpfung zu vergleichen, wobei erstere als scheinbarer Fortschritt, letztere als rückschrittliche Illusion zu verstehen wären. Vorzüglich die letzthin vorgetragenen Bemerkungen lehren, wie groß die Peinlichkeit wird, wenn man unter "Natur" eine exotische Attraktion versteht, deren Charakterisierung die Unberührtheit ist, und welche durch externe Einwirkungen so rettunglos zerstört würde wie die Anziehungskraft einer begehrenswerten Jungfrau durch die Begattung. Der einschlägig bewanderte Leser weiß, daß eben dies nicht der Fall ist und das Leben in der Zivilisation gewiß nicht ohne Reiz ist. Um diesen Ungereimtheiten und begrifflich-gedanklichen Sackgassen zu entrinnen, ist dringend anzuempfehlen, den Antagonismus von Kultur (Zivilisation, Technologie, "Geist") auf der einen, und Natur (Schöpfung, "Seele") auf der anderen Seite entschieden den Rücken zu kehren. Dies ist möglich, wenn man einer zwar nicht neuen, nie aber mit wünschenswerter Deutlichkeit durchgeführten Systematik folgt. Demnach umfaßt Natur den gesamten Bereich der empirisch zugänglichen Welt, gleichgültig, ob diese Erfahrung (methodologisch) durch Fremd- oder Selbstbeobachtung erfolgt. Wir haben es somit nicht mit einer gleichsam unschuldigen Natur zu tun, deren Zerstörer, deren "Widersacher" (KLAGES) wir sind, und auch nicht mit einem blinden "Willen in der Natur", den es zu
verneinen gilt (SCHOPENHAUER). "Natur" zerfällt vielmehr in ihren
beseelten Teil (Kultur- und Geisteswissenschaften, Psychologie, Theologie,
Rechtswissenschaften usw.), ihren belebten Teil (Biologie, Botanik, Zoologie,
Anthropologie usw.) und ihren unbelebten Teil (Naturwissenschaften, Physik,
Chemie, Mineralogie usw.). Wir Menschen stehen der Natur (der belebten wie der
unbelebten) nicht indifferent zur Seite, wir machen sie uns "untertan"
und gefährden damit jene wie uns selbst. Den Urwald wird es in Kürze nicht
mehr geben (Elfenbeinküste!) und täglich stirbt eine Pflanzen- oder Tierart
unwiederbringlich aus. Das mag manch einen beunruhigen und erschrecken. Er wird
sich aber mit dem Kulturwald, dem Forst, zu trösten haben, der ein zweckmäßig
umgeformter, den Bedürfnissen der Menschen (der beseelten Natur)
entsprechender, auf Erhalt angelegter Wald ist. Die Natur besteht längst nicht
mehr aus eigener Kraft, sie ist angewiesen auf den Förster, der einen
Maschendraht über den Ameisenhügel legt, wie dieser wiederum abhängig ist von
dem Chirurgen, der seinen perforierten Blinddarm operiert. Die Natur hilft sich
selbst, dies aber nur durch ihr zivilisiertes und beseeltes Produkt, den
Menschen. Wie der Wald, der nur als Forst erhalten bleiben kann, ist unser
Hausschwein ein zivilisiertes, deshalb aber nicht weniger schätzenswertes
Kulturkind. Daß unser "natürliches", sauberes und behendes Sus
scrofa im Kulturwald gut zu leben und bei verständiger Forstwirtschaft
sogar sehr gut zu leben vermag, ist nur dank einer segensreichen Symbiose von
Instinkt und Intellekt ("Geist" und "Seele" sensu KLAGES)
möglich, nämlich der Jagd. Gerade weil sich die Jagd von der ursprünglichen
Triebfeder des Hungers losgelöst hat, vermag sie Artenreichtum und
Artenvielfalt zu gewährleisten, sofern man sie nicht durch aberwitzige
Gesetzesvorschriften austrocknet, worum sich europäisches Parlament und
nationale Administration mit schönstem Erfolg bemühen. Der Antagonismus von Natur und Kultur ist gegenstandslos, das Festhalten an ihm irreführend. Statt dessen ist "Natur" in ihren unbelebten, belebten und beseelten Aspekt zu trennen. Kultur ist das beseelte Integral der Natur, welche deren unbelebte und belebte Komponenten zu gestalten, aber auch zu mißbilden vermag. Wir sind daher nicht im Begriff, die Umwelt oder die Natur zu zerstören, wir drohen uns selbst zu vernichten, der wir der höchst entwickelte, bei weitem interessanteste, allerdings auch am meisten problematische Teil der Natur sind. Anschrift des Verfassers: |