EGGE-WESER | 1982 | Band 1 / Heft 4 | Seiten 183-187 |
Jugend forscht :
Marion Weßler, Ottbergen
(Sprecherin des Biologie-Leistungskurses in Brakel)
Der Biologie-Leistungskurs der Jahrgangsstufe 12 Städtisches Gymnasium/Brede in Brakel führte im Herbst/Winter 1980/81 unter Leitung seiner Lehrerin, Frau Tewes, eine Flechtenkartierung in Brakel und der näheren Umgebung der Stadt durch. Hiermit sollte das Kursthema "Ökologie" praxisbezogen behandelt und ein Einblick in die Methoden wissenschaftlichen Arbeitens gegeben werden.
Wissenschaftliche Literatur vermittelte zunächst einen Eindruck von der Physiologie (Wissenschaft von den Lebensvorgängen im Organismus) der zu untersuchenden Pflanzen. Einige Eigenschaften der Flechten sollen hier kurz vorgestellt werden. Flechten sind Organismen, die von Algen und Pilzen gebildet werden. Diese leben zu gegenseitigem Nutzen zusammen (in Symbiose). Mit der Lupe erkennt man eine grüne Schicht, die "Algenschicht". In ihr liegen die runden Algenzellen zwischen Pilzfäden (Hyphen). Über der Algenschicht bauen gallertartig verklebte, kurze, dickwandige Hyphenzellen eine Schutzschicht, die "Rinde", auf. Nach unten hin wird die Flechte durch das "Mark" geschützt, das aus locker verwobenen Pilzhyphen besteht.
Die Symbiose von Algen und Pilzen ermöglicht den Flechten, an sehr extremen Standorten zu leben, zum Beispiel im Hochgebirge. Der Pilz allein kann hier keine Kohlenhydrate finden, und die Alge würde durch das Klima zerstört, wenn der Pilz sie nicht vor zu intensivem Licht, Trockenheit und großen Temperaturschwankungen schützte. Flechten haben den Vorteil, sehr schnell in einen Zustand latenten (vorhanden, aber nicht in Erscheinung tretend) Lebens übergehen zu können und so extremste Lebensbedingungen zu überstehen.
Man unterscheidet drei Typen von Flechten:
1. Strauchflechten: | Flechte hängend oder strauchartig abstehend aufrecht, stiftartig oder becherig |
2. Blattflechten: | Flechte blattartig, der Unterlage anliegend oder aufsteigend |
3. Krustenflechten: | Flechte krustig, schuppig oder staubig |
Obwohl sich Flechten an extremste Lebensbedingungen anpassen können, ist ihr Bestand gefährdet. Es hat sich nämlich gezeigt, daß diese Pflanzen besonders empfindlich auf Schwefeldioxid reagieren, das bei jedem Verbrennungsvorgang entsteht und im Rauch aller Feuerungsanlagen, besonders aber in den Abgasen von Automotoren enthalten ist.
Schon bei einer SO2-Konzentration von nur 0,02 ppm (parts per million - Millionstel-Anteil) in der Luft zeigen sich Beeinträchtigungen im Wachstum der Pflanze. Die SO2-Anfälligkeit
Um nachzuweisen, wie empfindlich Flechten auf den SO2-Gehalt der Luft reagieren, führten wir einen Begasungsversuch im Labor durch. Die Krustenflechte Leanora spec. und die Blattflechte Parmelia spec. sollten einer stadtluftähnlichen SO2-Konzentration ausgesetzt werden. Die Verwendung verschiedener SO2-Konzentrationen erhöht die Echtheit des Versuchsergebnisses. So wurde eine Meßreihe mit zwei verschiedenen SO2-Konzentrationen und ein Kontrollversuch durchgeführt. Einige Flechten wurden 19 Stunden lang im Erlemeyerkolben einer Konzentration von 10 ppm ausgesetzt, andere einer Konzentration von 1 ppm. Nach sechsstündiger Entgasung brachten wir die Pflanzen an ihren ursprünglichen Standort zurück und beobachteten sie sechs Wochen lang. Nach dieser Zeit konnte man deutliche Unterschiede in der Weiterbildung der verschieden behandelten Flechten erkennen. Während die unbegasten Kontrollflechten keine Veränderungen zeigten, waren bei mit 1 ppm behandelten Pflanzen weiße Pilzhyphe und weiße Ränder zu erkennen. Die Schädigung der mit 10 ppm begasten Flechten war schon so weit fortgeschritten, daß man keine Grünfärbung mehr erkennen konnte.
Nach diesen in die Thematik einführenden Untersuchungen begannen wir die eigentliche Arbeit, nämlich die Untersuchung der Luftqualität Brakels anhand der genauen Beobachtungen der Flechtenvegetation der Stadt.
Um ein möglichst repräsentatives Bild der Luftqualität zu erhalten, untersuchten wir drei Zonen:
Der Arbeitsauftrag lautete: Sammeln der Flechten, Häufigkeit ihres Vorkommens und Grad ihrer Ausprägung zusammen mit dem Standort sorgfältig vermerken.
Da eine exakte Flechtenbestimmung sehr kompliziert ist, wurden die Flechten nach Ausführung der Arbeiten nach Stuttgart eingeschickt und dort von dem Flechtenspezialisten Felix Schumm bestimmt. Dann wurden die Untersuchungsergebnisse ausgewertet unter den Gesichtspunkten: Artenreichtum, Deckungsgrad, Verbreitung und Bonität.
Hieraus ergaben sich für die einzelnen Standorte folgende Tatbestände:
a) Verkehrsarme Zonen:
In den vom Verkehr weitgehend verschonten Gebieten findet sich eine ausgesprochen gute Flechtenvegetation. Der Artenreichtum ist groß, die Bonität der Pflanzen gut.
Das Kurgebiet "Kaiserbrunnen" beherbergt neben den üblichen Flechten noch andere, seltener gewordene Arten, darunter auch empfindliche Blattflechten.
Die Verbreitung der Flechten ist stark. Auch sind hier wesentlich mehr Blatt- als Krustenflechten zu finden. Aufgrund dieser Beobachtungen kann man sagen, daß die Luftqualität in diesen weiter vom Verkehrsgeschehen entfernten Zonen noch relativ gut ist.
Eine teilweise Schädigung besonders empfindlicher Blattflechten deutet jedoch eine gestiegene oder steigende Schadstoffbelastung hin.
b) Gebiete mit mäßigem Verkehr:
Die citynahen Wohngebiete überraschten durch einen überaus großen Artenreichtum an Blatt- und Krustenflechten. Auch der Deckungsgrad der Pflanzen war hoch.
Man findet hier kaum abgestorbene oder besonders stark geschädigte Pflanzen, was wiederum auf gute Luftqualität schließen läßt. Das positive Bild dieser Gebiete verändert sich, kommt man an die Mündung der untersuchten Straßenzüge in die verkehrsreiche Nieheimer Straße. Hier verschwinden die Blattflechten ganz, die Krustenflechten weisen enorme Schädigungen auf. Zu finden waren nur noch die Krustenflechten der Gattungen Lepraria und Lecanora.
Der deutlich erkennbare Einfluß des Verkehrs belastet die Luftqualität an diesen Stellen derart, daß die Flechtenvegetation hier sichtbar abnimmt.
c) Gebiete mit starkem Verkehr:
In Fahrbahnnähe wurden keine Flechten gefunden. Etwa 10 bis 20 m vom Verkehrsgeschehen entfernt existiert nur die Krustenflechte Lepraria, die sich als besonders unempfindlich in Bezug auf den zu untersuchenden Faktor erwies.
In einer Grünanlage (Kriegerehrenmal/Hanekamp) finden sich immer noch verhältnismäßig wenige Exemplare, darunter auch einige Blattflechten. Bonität und Deckungsgrad dieser Pflanzen sind jedoch so schlecht, daß die Flechtenvegetation in dieser Zone allgemein als deutlicher Hinweis auf eine sehr hohe Schadstoffkonzentration gewertet werden kann.
Betrachtet man die Zonen zusammen, so kann eine stetige Zunahme der Schadstoffkonzentration der Luft von den Randgebieten der Stadt zum Zentrum hin festgestellt werden. Diese Erkenntnis wird auch durch das Aerosol-Programm der Stadt Brakel vom 16.04.1971, 14.04.1972 und 11.06.1976 tendenziell bestätigt. Bedauerlicherweise wurden zu keinem Zeitpunkt die Konzentrationen einzelner Schadstoffe wie Blei, Schwefeldioxid, Stickoxide und Kohlenmonoxid ermittelt. Die alarmierende Situation im Zentrum der Stadt muß umso mehr erschrecken, als die sonstigen Lebensbedingungen für Flechten, wie der Temperaturverlauf und der Feuchtigkeitsgehalt der Luft in Brakel durchaus günstig sind.
Die Untersuchungen wurden abgeschlossen mit einem Artikel in einer hiesigen Tageszeitung und einer Ausstellung. Damit sollte die Bevölkerung aufmerksam gemacht werden auf diese unscheinbaren Pflanzen. Weiterhin sollte auf die Verminderung der Luftqualität und mögliche Folgen hingewiesen werden.
Brakel, Faulensieksweg, 9. Juni 1982: Auf der Krone und der Straßenseite einer Betonmauer zwischen Burgersteig und Garten reiche Flechtenvegetation. In der S/W-Aufnahme erschließt sich der Reichtum an Arten und der hohe Grad der Bedeckung fast besser als in der Natur. Nur die gelblichen und grünlichen Arten, die flachkrustig wachsen, heben sich kaum ab. |
Nieheimer Straße, 9. Juni 1982: Nur eine Flechtenart deckt nur wenige Stellen an einer Mauer. Sie erscheint im Bild in Form von mehr oder weniger rundlichen Flecken. In der Natur heben sich diese leuchtend gelb vom grauweißen Grund des Muschelkalks ab.
Aufnahmen: Preywisch |